Die Giraffe, so besagt eine alte Legende, wurde erschaffen, weil die Götter in einen Wettstreit gerieten. Sie hatten die Löwen auf die Erde entsandt, die Elefanten und die Nashörner, und nun mutmaßten sie, welches von all diesen Tieren wohl am meisten Ehrfurcht gebiete. Die Göttermutter glaubte an die Kraft der Raubkatzen; ihre Söhne aber hielten die Elefanten für mächtiger. Um den Streit zu schlichten, schuf Gottvater kurzerhand ein neues Wesen - eine eigenartige Kreatur mit langem Hals und hohen Beinen, auf denen es über die Savanne stakste. Seine Söhne höhnten, dass es mit seinem geflechten Fell weithin sichtbar sei und eine leichte Beute abgeben werde, und selbt die Göttinmutter zweifelte an der Wehrhaftigkeit des Wesens. Doch Gottvater lächelte nur. Er wußte, er hatte gerade eines der wenigen Lebewesen erschaffen, die wahrhaftig unbezwingbar sind...
"Das Leben dieser Tiere beginnt bereits mit einem halbrecherischen Stunt", sagt der Verhaltensbiologe Mike Lancaster. "Die Kleinen stürzen im freien Fall zwei meter aus dem Geburtskanal. Danach wirft sie so schnell nichts mehr aus der Bahn." Tatsächlich kennen ausgewachsene Giraffen einen natürlichen 'Feind - nämlich Giftschlangen. Anderen Raubtiere hingeen entlocken ihnen meist nur nachsichtige Blicke. Schließlich genügt ein kräftiger Hieb mit ihrem Hals, um selbst Artgenossen bewusstlos zu schlagen - und die wiegen 1,9 Tonnen. Das ist zehnmal mehr, als jeder Löwe auf die Waage bringt. Genau genommen wagt es nicht einmal gemeines Ungeziefer, eine Giraffe zu belästigen: Das Fell der Tiere enthält mehr als elf verschiedene Chemikalien, die Bakterien effektiver abtöten als jedes medizinische Produkt - der Gehalt an p-Kresol ist sogar so hoch, dass Giraffen sogar von Zecken verschont bleiben. "Einst wurden Giraffen als 'Kameloparden' bezeichnet", sagt der Forscher. "Sie galten als Mischung aus Kamel und Leopard, weil sie tagelang ohne Wasser auskommen und bei Spitzengeschwindigkeiten von fast 60 km/h so schnell laufen können wie ein Leopard." Allerdings nur auf festem Boden - auf sumpfigem Untergrund tragen die Beine den schweren Körper nicht mehr; Flüsse sind damit sogar unüberwindbare Hindernisse. Aber Abkühlung brauchen die Giganten ohnhin nicht: Um jeden Flecken in ihrem Fell verläuft eine spzielle Arterie, über die Wärme abgegeben wird. So überstehen Giraffen höchste Temperaturen - und zählen zu den wenigen Tieren, die keinen Schatten aufsuchen müssen. Mike Lancaster lächelt. "Manchmal glaube ich, Gottvater wollte die anderen Tier vor dem Hochmut bewahren", sagt er. "Er setzte ihnen dieses merkwürdige Wesen vor, dass un terlegen schien und erhob es zum Liebling der Götter."
Dorothee Teves
Quelle: Ein Foto und seine Geschichte, TV Hören und Sehen, 02/12