Die Inuit sagen, dass es eigentlich unmöglich sei, einen Eisbären zu erlegen. In ihrem Glauben ist nur jenen Männern eine siegreiche Jagd beschert, weil sie sich einem strengen Verhaltenskodex unterwerfen und ein moralisch aufrechtes Wesen besitzen. So sind die Eisbärjäger ihres Volkes seit jeher hoch geachtet - nicht als Jäger, sondern als Eingeweihte, die über Generationen schon die Geheimnisse der weißen Herrscher hüten.
Es sind Geheimnisse, die nicht einmal Wissenschaftler zu entschlüsseln vermögen: Trotz all der Daten, die über Eisbären existieren, trotz aller Beobachtungen und Auswertungen, bleiben die Tiere ein Wunder. Ihre tatzen besitzen Schwimmhäute, die Sohlen einen dicken Pelz - sie sind Steuerruder, Paddel und Schneekette in einem und ermöglichen es den Tieren, sich an Land und unter Wasser gleich schnell fortzubewegen. Ein Eisbär kann alles: 65 Kilometer weit schwimmen, zwei Minuten lang tauchen, schneller rennen als ein Kurzstrecken-Sprinter. Vor allem eines aber beherrschen Eisbären wie kein anderes Raubtier: die Jagd. Ihre Nase ist so fein, dass sie Aas noch über eine Entfernung von 32 Kilometern wahrnehmen - und eine Robbe selbst unter einer zwei Meter dicken Eisschicht im Wasser. Keine Schneehöhle ist tief genug, um vor der Nase eines Eisbären Schutz zu gewähren; kein Atemloch im Eis so klein, als dass es dem Jäger nicht doch die Anwesenheit seiner Beute verraten würde. Und die Robben? Sind ahnungslos - das weiße Fell macht die Bären nahezu unsichtbar; das dichte Fellpolster an ihren Sohlen dämpft alle Laute. Theoretisch müßten Eisbären mit jedem Jagdversucht Erfolg haben. Haen sie aber nicht - denn ausgerechnet ihre Super-Nasen verraten sie: die großen schwarzen Tupfer sind selbst unter Wasser für alle Robben weithin sichtbar... Die Inuit sagen, die verräterische Nase stelle eine Art Chancengleichheit her. Denn um sich vollends zu tarnen, müssen Eisbären sie unter ihren Tatzen verbergen und berauben sich damit ausgerechnet ihres wichtigsten Sinnes. So gelingt nur einer von zehn Jagdversuchen. Doch nicht einmal das ist für diese Tiere dramatisch: Eisbären können bis zu einem Jahr lang umherziehen, ohne jemals zu fressen. Ihr Magen ist auf solche Hungerzeiten eingerichtet und schaltet beliebig auf Fasten-Modus um. Der Stoffwechsel wird automatisch gedrosselt, der Energieverbrauch sinkt ins Bodenlose. Nur die Sinne bleiben scharf. Wie das funktioniert, weiß kein Mensch. Es ist eines der vielen kleinen Wunder, aus denen Eisbären bestehen.
Dorothee Teves
Quelle: Ein Foto und seine Geschichte, TV Hören und Sehen, 1/10