Angestrengt spitzt der kleine Orang Utan die Lippen. Er schielt ein wenig dabei, denn noch erfordert es seine gesamte Kozentration, um den Kuss auch wirklich zielgenau auf den Lippen seiner Mutter zu platzieren. Und es ist wirklich schwierig: Er muss mächtig den Hals recken und sich mit beiden Händen und einem Fuß an ihrem Fell festhalten, um überhaupt so hoch zu kommen. doch das alles ist egal - denn dieser Augenblick gehört nur der Liebe.
Das Foto auf dieser Seite ging um die Welt, und es hat unter Forschern eine Lawine losgetreten. Nicht, weil es besonders niedlich ist. Sondern weil dieser Kuss mehr sagt als tausend Worte. Er erzählt von einem Jungen, das in diesem Moment den Geruch seiner Mutter atmet; einen Geruch, der einzigartig ist, erdig und sanft, und der für immer in seinem Unterbewusstsein verankert sein wird. Vor allem aber erzählt er von der Geborgenheit - und vom simplen Glück, geliebt zu werden. denn der Kuss des kleinen Orangs bezweckt nichts - er ist keine Geste, mit der er um Futter bettelt; kein Einschmeicheln nach einem Tadel und keine Bitte um Aufmerksamkeit. Es ist einfach nur ein Kuss. Ein Ausdruck der Liebe - allerdings ein Ausdruck, den in dieser Form ansonsten nur Menschen kennen...
Können Orangs also lieben? "Die Annahme, dass Tiere derartige Emotionen empfinden gilt als verbotener Kelch der Wissenschaft", sagt die Primatenforscherin Jane Goodall. Der Fachbegriff dafür lautet: "Anthropomorphismus" - das Projizieren menschlicher Eigenschaften auf Tiere. Goodall nennt es "die schlimmste Sünde der Verhaltensbiologie". Weil nur als bewiesen gelten kann, was messbar ist - Stress oder Angst etwa werden durch einen Anstieg der Herzfrequenz angezeigt und gelten bei Tieren als nachgewiesen.
Aber Liebe - woran ist Liebe messbar? An de Mut, mit dem Orang-Mütter ihren Nachwuchs gegen Wilderer verteidigen - und der sie fast ausnahmslos das Leben kostet? An den 800 ersten Lebenstagen eines Orang-Babys, in denen kein Moment vergeht, in dem es nicht von seiner Mutter gestreichelt, getragen oder umarmt wird? Oder ist Liebe daran messbar, dass Tierschützer immer wieder beobachten, wie Orang-Mütter selbst lange, nachdem ihr Nachwuchs erwachsen und fortgewandert ist, in exakt jenem Moment aufschrecken, in dem ihren Jungen irgendwo auf der Welt ein Unglück zustößt? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur eines: Liebe ist die größte Kraft auf dieser Erde. Sie hat tausend Formen und Ausdrücke. Sie liegt in einem Sonnenaufgang. In einer Erinnerung. Oder in einem Kuss. Denn Liebe ist alles - aber kein Vorrecht des Menschen.
Dorothee Teves
Quelle: Ein Foto und seine Geschichte, TV Hören und Sehen, 39/09