Es ist ein Blick. Eine einzige zaghafte Berührung, in der tausend Fragen liegen. Tausend Fragen, die alles bedeuten: Erinnerst du dich? Gehörst du zu mir - wirst du mich schützen? Tausend Fragen - und ein Gedanke: Verlasse mich nicht....
Das Foto auf dieser Seite zeigt jenen Moment, in dem das Koala-Babay Kailla zum ersten Mal seiner Mutter Bussy wiederbegegnet. Vier Monate Bangen liegen zwischen Kaillas Geburt und dieser Aufnahme. Denn das Koala-Baby ist ein Zwilling, einer von weltweit nur vier bekannten Fällen bei Koalas. Im Alter von drei Tagen - und mit einer Länge von nur zwei Zentimetern - fiel sie aus dem schützenden Beutel ihrer Mutter. "Als ich sie zurückstecken wollte, gab es plötzlich keinen Platz mehr für sie", sagt ihr Pfelger Darren Tilley. "Ihr Zwilling Tahilla hatte sich dort breitgemacht." Denn: Von Natur aus sind die Beutel von Koalaweibchen gar nicht für Doppelgeburten konzipiert - sie sind viel zu klein für zwei Geschwister. Als Kailla herausfiel, wurden daher automatisch auch Bussys Muttergefühle für sie gekappt. Ein Schutzmechanismus der Natur, mit dem wenigstens das Überleben eines Babys gesichert werden soll. Dieses Junge war Tahilla. Von dessen Schwester, dem winzigen, wimmernden Unglückstierchen, wollte Bussy nichts mehr wissen. "Es war, als hätte Kailla niemals existiert", sagt Tilley.
Eine Überlebenschance von 1 zu 10.000 rechnen Tiermediziner dem kleinen Koala-Mädchen aus. Selbst die Chance, einen schweren Flugzeugabsturz zu überleben, ist höher. Aber Kailla schafft es - wie durch ein Wunder: Alle drei Stunden wird sie von Darren Tilley mit Mini-Pipetten gefüttert; sie wächst, nimmt zu, wird stärker. "Nach allen Regeln der Natur hätte Kailla nicht überleben dürfen", sagt Tilley. "Aber es war, als klammere sie sich an etwas - an etwas, das ihr unbändige Kraft verlieh. Sie wollte nicht der vergessene Zwilling sein. Ich glaube, Kailla wollte allen beweisen, dass sie das Leben verdient."
Mit vier Monaten ist Kailla faustgroß und wiegt mehr als zwei Orangen. Sie hat das Unmögliche geschafft. Nicht, als sie überlebte. Soncdern in jenem Moment, als sie ihre Mutter wiedersah. "Wir haben nur auf eine halbwegs friedliche Zusammenführung gehofft", sagt Tilley. "Aber die beiden sahen sich an, zogen gegenseitig ihren Duft ein. Sie waren so zärtlich - ich bin sicher, dass sie einander erkannten". In diesem Augenblick liegt die Wahrheit in einer einzigen Berührung, die tausend Fragen beantwortet: Ich erinnere mich. Ich gehöre zu dir - und ich werde dich niemals wieder verlassen....
D. Teves Quelle: Ein Foto und seine Geschichte, TV Hören und Sehen, 37/09