"Was siehst du in den Augen dieses Zebras?". Die frage meines Onkels durchbrach die Stille des Morgens. Ich musste lächeln - seit Stunden saßen wir hier, regungslos im Gras der Steppe. Mein Onkel machte das immer so - er stammt von den Xhosa ab, einem südafrikanischen Kriegervolk. Seit ich fotografiere, begleitet er mich, und jedes Mal versucht er, mich ein wenig in die Weisheiten seines Stammes einzuweihen. Dieses Mal also waren wohl die Geheimnisse der Zebras an der Reihe. Nun gut. "Das Tier hat Glück", sagte ich. "Es steht alleine in einem Ozean aus saftigem Gras - keine Konkurrenz weit und breit." Mein Onkel schwieg. Dann schüttelte er einmal den Kopf und seufzte, als hätte ich das Offensichtlichste übersehen. Wie jedes Mal. "Wenn man alles erreicht hat", fragte er schließlich, "wofür lohnt es sich dann noch zu leben?"
Die Antwort erschien mir simpel: "Man lebt dafür, all das zu genießen, was man erreicht hat." So wie das einsame Zebra, das sein Gras mit keinem anderen Tier teilen musste. Und in diesem Moment erkannte ich, wo mein Irrtum lag: "Das Zebra fraß nicht - es stand inmitten der überreichen Ebene und empfand keine Freude. Es wirkte unsicher, verängstigt, trauernd beinahe. Mein Onkel bemerkt meinen Blick und nickte. "Alles zu erreichen bedeutet gleichzeitig, alles zu verlieren", sagte er. "Das, was uns am Leben erhält, ist der Traum - nicht seine Erfüllung. Denn wenn alle Träume erfüllt sind, bleibt nichts außer der Leere, die sie hinterlassen und der Angst, die Früchte unsererMühen wieder zu verlieren."
Hatte der alte Mann Recht? Ich bin mir bis heute nicht sicher. Ich träume von Liebe, von Glück, von nicht endender Gesundheit und manchmal auch davon, berühmt zu sein. Was also wäre, wenn sich alle meine Träume erfüllten? Ich stelle mir vor, ich sei glücklich. Glücklich, nur für einen kurzen Moment. Jenen Moment, in dem ich all das genießen könnte. Um dann, im nächsten Augenblick, aufzubrechen, um einem weiteren Traum nachzujagen - einem weiteren Traum, dessen Erfüllung mich vielleicht wirklich glücklich machen würde. Ich habe mich oft gefragt, ob das in der Natur des Menschen liegt. Aber dann betrachtete ich das Foto des einsamen Zebras, das ich an jenem Morgen an der Seite meines Onkels geschossen habe. Und ich weiß, wie die Geschichte endete: Das Zebra verließ die Ebene. Es wanderte zurück zu seiner Herde hinter den Hügeln und tauschte ein Meer aus Gras gegen ein paar verdorrte Halme; die Erfüllung aller Träume gegen einen Moment der Zufriedenheit. Es wirkte glücklich.
Edward Mason
Quelle: Ein Foto und seine Geschichte, TV Hören und Sehen, 28/09