Deeih. Meeeiiih! Wie ein kleines kreischendes Sägeblatt zerreißt der morgendliche Weckruf die Stille auf Espanola Island. Er dringt aus einer zarten Kehle, wird eifrig von einem Dutzend weiterer Stimmchen aufgenommen, und bald klingt es, als seien ganze Sägereien am Werk. Es ist vier Uhr morgens - zwei Stunden, bevor jeder normale Seelöwe sich überhaupt rühren würde - und an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Denn gerade läuten die anspruchsvollsten Schüler der Welt den Unterricht ein - ein Haufen Seelöwenbabys, die nun hartnäckig ihre Mütter aus dem Schlaf reißen, damit sie endlich mit den ersten Lektionen des Tages beginnen können...
Normal ist das alles natürlich nicht. Das Lernpensum eines jungen Seelöwen ist überall auf der Welt gleich: Mit sieben Tagen nehmen sie ihre erste Schwimmstunde in einer seichten Bucht; es folgen Trockenübungen zur Kräftigung der Flossen und viele Korrekturen durch Mami, bis alles richtig sitzt. Auf Espanola Island, einer Insel des Galapagos-Archipels, hat sich die Sache mit dem Unterricht allerdings irgendwie verselbstständigt: "Seit Monaten beobachten wir, dass die Jungen ihre Mütter regelrecht dazu zwingen, schneller mit den Lektionen fortzufahren", sagt die Biologin Esther des Calmar. "Sie lernen besser und fordern mehr." Warum? Weiß kein Mensch. Fest steht jedenfalls: Die Mütter müssen ordentlich schuften, um den Wissensdurst ihrer Kleinen irgendwie zu stillen - sie schieben Doppelscichten im Schimmunterricht, demonstrieren Tauchübungen in 180 Metern Tiefe, die selbst für fortgeschrittene Seelöwen eine Herausforderung wären, und an einigen Buchten werden sogar Nahkampf-Techniken mit den kleinen Galapagos-Haien erprobt, was mittlerweile dazu geführt hat, dass die Raubfische entnervt ihre Reviere verlegt haben. "Wir wissen nicht, was diese Seelöwen antreibt", sagt die Biologin. "Auf jeden Fall sind sie die stärkste Generation, die jemals auf dieser Insel geboren wurde."
Und offenbar haben die Kleinen viel vor mit ihrem Können: Seit ihrer Entdeckung gelten die Galapagos-Seelöwen als endemisch - sie kommen nur auf diesem Archipel vor. Vor kurzem allerdings sichteten Forscher einige Jungtiere vor der Küste Ecuadors. Wenig später tauchten weitere Einzelgänger vor Kolumbien und Costa Rica auf - mehr als 1000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt und ganz offensichtlich auf der Suche nach neuen Revieren. Es scheint, als haben die Seelöwen von Galapagos entschieden, dass es Zeit ist, die Welt zu erobern. Wünschen wir ihnen viel Glück - auch wenn sie es kaum brauchen werden. Schließlich kommen sie aus der besten Kaderschmiede der Welt....
D. Teves
Quelle: Ein Foto und seine Geschichte, TV Hören und Sehen, 22/09