Camaro hat noch nie in einem Bett geschlafen. Er tut es auch hier nicht: Nachts rollt sich der Junge uner einer Bank zusammen, der er an die hinterste Wand seines Zimmers geschoben hat. Er muss die Tür im Auge behalten. Die Tür - und all die Schrecken, die durch sie hindurchschleichen könnten, wenn es Nacht wird und die Träume kommen. Camaro ist elf, und er hat sein ganzes Leben auf den straßen Rio des Janeiros verbracht. Als die Sozialarbeiter ihn aufgriffen, hauste er in einem Bahnschacht. Er besaß eine Hose, zwei Messer und eine Drahtschlinge. Er kannte jeden schmutzigen Trick, um auf den Straßen zu übereleben, und er hatte alles gesehen, was diese Welt an Grausamkeit und Gewalt bereithält. Camaro kannte alles - doch nichts von dem, was ein Kind kennen sollte.
"Sieh ihn dir an! Sieh ihn dir genau an und überlege, was du tun musst, damit er zu dir kommt." Unsicher steht Camaro in dem kleinen Holzpferch - seit Stunden versucht er, den goldenen Hengst einzufangen, doch das Pferd ergreift immer wieder die Flucht. Der Junge ist wütend: Seit einem halben Jahr lebt er inzwischen auf der "Fazenda Barreiro". Der Besitzer der Ranch, ein alter Mann namens Joaquim Cabral, nimmt seit Jahren Straßenkinder auf und lehrt sie, was Leben wirklich bedeutet. Nicht dadurch, dass er Vorträge hält - sondern einfach, indem er die Kinder mit seinen Tieren arbeiten läßt. "Tiere erkennen die Wahrheit", sagt er, "sie sehen durch alle Lügen hindurch und legen unsere Seele blaß. Wir können uns vor ihnen nicht verstellen, wir können einfach nur ehrlich sein. "Lächelnd wirft der Mann einen Blick auf Camaro - er weiß, heute wird der Junge kein Glück haben mit dem Hengst. Er hat noch lange nicht begriffen, worum es wirklich geht.
Noch zwei Wochen stapft Camaro immer wieder wutentbrannt aus dem Pferch. Er versucht das Pferd mit einem längeen Seil einzufanen; mit Futter, Wasser, Drohungen und Versprechenungen. Stunde um Stunde verflucht er den Hengst - und dann kommt der Moment, in dem Junge kapituliert: Schluchzend hockt er sich in den STaub; er ist wütend, enttäuscht und fühlt sich verletzt wie nie zuvor in seinem Leben. Elf Jahre hat auf den Straßen überlebt - und doch gelingt es einem Perd, ihn über alle Grenzen zu treiben. Camator hat nie gewein, aber in dem Moment rinnen Tränen über sein Gesicht, und während er so dort sitzt, hält der Hengst inne. Vorsichtig tritt er an den Jungen heran, und als Camaro die Hand ausstreckt, ist das Pferd noch immer da. Einen Monat später reitet er zum ersten Mal den goldenen Hengst. Das Pferd verleiht ihm Flügel, es trägt ihn vor der Dunkelheit davon - und zum ersten Mal ist Camaro schneller als all die dunklen Träume...
D. Teves
Quelle: Ein Foto und seine Geschichte, TV Hören und Sehen, 14/09