Wolken verdunkeln den Himmel, und mit einem Mal ist es, als tanzten die Tropfen wie tausend Schmetterlinge über das Fell der drei Löwenbabys. Sie kitzeln auf der Nase, machen das Fell feucht und schwer und sie sind anders als alles, was die Kleinen je erlebt haben. Sie sind sechs Wochen alt - und dieses ist der erste Regen in ihres Lebens. Das erste große Wunder auf jenem Weg, der sich Erwachsenwerden nennt.
Noch zwei wochen werden die Kleinen mit ihrer Mutter abseits des Rudels in einem geheimen Versteck leben - es ist weit genug entfernt, um Übergriffe des Alphamännchens zu vermeiden, die tödlich sein können. Die Löwin riskiert alles, um dieses Versteck zu schützen - nicht einmal zur Jagd schließt sie sich ihrem Rudel noch an. Eine Kraftanstrengung, die sie innerhalb von Wochen völlig auszehrt: Selbst in der Gruppe gelingt Löwen nur jeder fünfte Jagdversuch - allein muss die Mutter mindestens 20 Mal aufbrechen, um einmal Beute zu schlagen.
Oft ist sie zwei Tage und zwei Nächte fort - 48 Stunden, die für die Kleinen zu den gefährlichsten ihres Lebens zählen: Zwar ist ihr Geruch noch neutral, doch jedes sehnsüchtige Fiepen und jede Regung wird sie an Feinde verraten. obwohl sie bereits mit wenigen Wochen beachtliche Kraft besitzen, können sich Löwenbabys nicht wehren - sie haben es ganz einfach noch nicht gelernt, und ihre Wehrlosigkeit endet erst, wenn sie in das Rudel aufgenommen werden. Mit einem Mal haben die Jungen dann nicht nur eine Mutter, sondern bis zu 30 Tanten, Schwestern und Cousinen, die sich alle um sie kümmern - und die ihnen alle ein Stück ihres eigenen Wissens mitgeben: Von den Ammen lernen sie Fürsorge und Rücksicht, die Wächter lehren sie Vorsicht im rechten Augenblick und die aberhundert Möglichkeiten des Angriffs, wenn nichts anderes bleibt. Die besten Jägerinnen weihen sie zwei jahre lang ein in die hohe Kunst der Jagd und bringen ihnen bei, dass Geduld und harte Arbeit zwar niemals sofort, aber immer irgendwann belohnt werden.
So werden die kommenden drei Jahre für die kleinen Löwen eine Aneinanderreihung von tausend Tagen sein, an denen immer irgendetwas zum allerersten Mal geschieht: Sie werden zum ersten Mal erfahren, wie es sich anfühlt, nicht recht zu haben und und auch, wie es sich anfühlt, doch recht zu haben und trotzdem zu unterliegen. Sie werden ihren ersten Kampf gewinnen, ihr erstes Rennen. Und eines Tages werden sie zum ersten Mal schneller laufen und weiter springen als ihre Beute. Sie werden versuchen, lauter zu brüllen, weiter zu wandern und stärker zu sein als alle anderen. Manches wird ihnen gelingen; vieles nicht. Doch darauf kommt es nicht an. Was zählt, sind einzig die Wunder, die sie auf dem Weg erleben - Wunder wie die tausend tanzenden Tropfen des Regens...
D. Teves
Quelle: Ein Foto und seine Geschichte, TV Hören und Sehen, 13/09